Kultur
Kiosk
Eröffnungsrede am 4.11.1990, von Pavel Liszka,
Kunsthistoriker, Köln
Das Projekt Kultur Kiosk, das mit dem heutigen Programm
beginnt, ist als eine Materialskulptur gedacht. So nennen
die Veranstalter das reichhaltige Angebot an
künstlerischen Aktivitäten, die aus verschiedenen,
nach der gängigen Vorstellung nicht
zusammengehörenden Kulturbereichen stammen: Zum Wort
sollen Beiträge der Kleinkunst, der Musik, des Films
und Videos kommen, es soll Theater gespielt, Tanz
veranstaltet und es sollen Werke der bildenden Kunst
ausgestellt werden. Schon diese Aufzählung macht
deutlich, daß hier etwas zusammengestellt,
zusammenmontiert wird, das oft säuberlich voneinander
getrennt präsentiert zu werden pflegt - nämlich
die sogenannte hohe Kunst in Museen und Galerien und die
angeblich niedere Kunst in Werkstätten, Ateliers oder
gar auf der Straße.
Begegnet uns also hier im Kultur Kiosk etwas Originelles,
etwas ganz Neues? Ja und nein. Ja, weil eine solche
Mischung, eine COLLAGE aus verschiedenen Kunstsparten vor
dem Hintergrund der die tradierte Kunstgattungstrennung
weitgehend respektierenden Postmoderne neu und originell
erscheint; nein, weil wir sehr wohl derartige
übergreifende Artefakte in der Geschichte der modernen
Kunst finden können. Und fast immer waren solche
Veranstaltungen, solche Collagen in Raum und Zeit, mit dem
Anspruch der Kritik, ja der Provokation, oder zumindest mit
dem Fragestellen verbunden.
Lasst uns kurz die Geschichte solcher Aktionen Revue
passieren. Die ersten MATERIALSKULPTUREN, die den Ansatz der
Collage, von Picasso und Braque um 1912 entwickelt, aus der
Zweidimensionalität und der Statik eines Bildes in die
neuen Dimensionen des Raumes und der Zeit übertrugen,
waren die dadaistischen Veranstaltungen im Cabaret Voltaire
in Zürich während des ersten Weltkrieges. Hugo
Ball, Emmy Hennings und Tristan Tzara - um nur einige zu
nennen - verfolgten die Idee eines Gesamtkunstwerks und
organisierten im Jahr 1917 Veranstaltungen, in denen
Vorträge, Lesungen, Tänze und Musik neben und mit
Werken der bildenden Kunst gleichgestellt präsentiert
wurden. Aber nicht nur diese edle Idee einer Versöhnung
der verschiedenen Kunstgattungen prägte diese
Workshops: Die Vorträge zeigten oft keinen logischen
Faden, die Gedichte keinen erkennbaren Sinn, die Musik wurde
als Geräusch mittels von Küchengeschirr erzeugt.
Diese Veranstaltungen ähnelten oft einer Karrikatur der
üblichen Ausstellungen und Konzerte oder
Theatervorführungen. Sie waren als ein provokativer
Protest gemeint. Die radikal-provokative Ablehnung der, in
der Kunst und Kultur damals üblichen Konventionen, ging
hier Hand in Hand mit der Ablehnung der bürgerlichen
Zivilisation schlechthin. Einer Zivilisation, die sich eben
auf den Schlachtfeldern des ersten Weltkrieges als eine
barbarische entlarvte. Ablehnen, provozieren,
Infragestellen, fragen - das waren die Akzente, die hier die
Dadaisten setzten. Als das wichtigste gestalterische Mittel
verwendeten sie das Prinzip Collage - da heißt, sie
montierten das Nichtzusammengehörige zusammen.
Die sechziger Jahre entdeckten diese dadaistische Attitude
wieder, nachdem die abstrakte Kunst der Spätmoderne der
Nachkriegszeit immer braver und langweiliger geworden war.
John Cage, Allan Kaprow in den USA, Wolf Vostell, Nam June
Paik in der Bundesrepublik, Yves Klein in Paris und ein
wenig später Hermann Nitsch und Otto Mühl in Wien
waren die Protagonisten der Happening - und
Fluxusveranstaltungen - in Wien nannte man sie
Materialaktionen -, die wieder Leben auf die
Kulturbühne brachten. Sicherlich waren diese Raum- und
Zeit-Collagen der sechziger Jahre weniger provokativ und
vielmehr ästhtisch aufgefasst, als sie vom arrivierten
Kunstpublikun und von der Polizei verstanden wurden. Es gab
Proteste, Prozesse und hochnäsige Beschimpfungen. Ja,
in Aachen floß 1964 gar das Blut - aus der Nase von
Joseph Beuys, nach einer Ohrfeige seitens eines
aufgebrachten konservativen Kulturhüters. Die Kunst
fand oft auf der Straße statt, sie griff in die
Gestaltung des öffentlichen Raums, wie z.B. in der
Siebentausend-Eichen-Aktion von Beuys 1982 im Rahmen der
Dokumenta 7. Nein, Kunst war es nicht, die das Leben
tatsächlich veränderte, vielmehr waren es die
Studentenbewegung und die Anti-Vietnamkrieg-Demonstrationen,
die den Motor der Liberalisierung der westlichen Demokratie
darstellten. Aber die Kunst war dabei und steuerte mit ihren
Aktionen Fragen und Fragezeichen bei.
So gesehen ist der Traditionszusammenhang, in dem sich
dieser KULTUR KIOSK befindet, kein unbedeutsamer. Und ich
würde sagen, daß es an der Zeit ist, die
affirmative Langeweile der musealen Postmoderne ein wenig
aufzubrechen und ein wenig frische Luft in den Kunstbetrieb
kommen zu lassen. Lasst uns wieder Fragen stellen, auch wenn
wir keine fertigen Antworten parat haben. Lasst uns wieder
Zweifel äußern, ja auch provozieren, damit die,
für uns selbstverständliche Demokratie nicht zu
einer heiligen, aber toten Kuh wird. Das Geldverdienen und
das Bravsein droht heute auch in der Kunst das
schöpferische und humane Leben zu ersticken. Die Kunst
hat die Möglichkeit hier ein wenig entgegenzuwirken.
Lasst uns wieder action in den Tempel der Kunst hineintragen
- aus Lust am Zweifeln, aus Neugier nach neuen
Möglichkeiten und aus Spaß an der Kritik - und
vorallem: aus Abscheu vor der Langeweile. In diesem Sinne
soll der Kultur Kiosk lange leben!